Der folgende Text wurde uns freundlicherweise von Hans Christian Luschützky, Obmann der Wiener Sprachgesellschaft von 1992 bis 2022, zur Verfügung gestellt und von ihm bei der Jubiläumsfeier anlässlich des 75-jährigen Bestehens der Wiener Sprachgesellschaft am 6. Mai 2022 verlesen.
75 Jahre Wiener Sprachgesellschaft
Am 7. Mai 1947, knapp zwei Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs, als das Hauptgebäude der Universität Wien an der Ringstraße noch von Schutthäufen umgeben war, trafen in dem zum von Kriegsschäden weitgehend verschont gebliebenen Trakt an der Philosophenstiege gehörenden Hörsaal 21 mehrere namhafte Vertreter philologisch-linguistischer Fächer zusammen, um dem akademischen Leben in diesem Bereich eine organisatorische Stütze in Form eines Vereins zu verleihen. Der Name dieses Vereins, »Wiener Sprachgesellschaft«, ist als Kurzform für den unhandlicheren Ausdruck »Wiener sprachwissenschaftliche Gesellschaft« zu verstehen und nicht als Anknüpfung an die historischen »Sprachgesellschaften« des 17. und 18. Jahrhunderts mit ihren sprachpflegerischen Tendenzen. Deren Zielsetzung wird in Österreich vom Verein »Muttersprache« vertreten, der zwei Jahre nach der Wiener Sprachgesellschaft aus Resten eines Wiener Zweigs des »Allgemeinen Deutschen Sprachvereins« hervorgegangen ist.
Zu den Gründungsmitgliedern der Wiener Sprachgesellschaft gehörten akademische Persönlichkeiten, die keiner ideologischen Verbundenheit mit chauvinistischen Tendenzen verdächtig sind, darunter der Romanist Wolfgang von Wurzbach, 1946 wieder in seine akademische Stellung eingesetzt, aus der er 1938 entlassen worden war, weiters der von 1938 bis 1945 dienstenthobene Philologe und Schulmann Heinrich Gassner, ab 1945 Sektionschef im Unterrichtsministerium, und der nach Vortragsverbot und Zwangspensionierung ab 1945 ebenfalls im Ministerialdienst aktive Anglist und Volksbildner Josef Lehrl.
Die Tagesordnung der Gründungsversammlung umfasste als ersten Punkt die in Form einer Satzung gefasste Zweckbestimmung und Organisationsform des Vereins. Diese Statuten bilden, mit geringfügigen Anpassungen, bis in die Gegenwart die vereinsrechtliche Grundlage für die Agenden der organschaftlichen Vertreter.
Ein weiterer Tagesordnungspunkt betraf die Festsetzung des Mitgliedsbeitrags, der mit umgerechnet 60 Cent veranschlagt wurde. Für Studierende galt ein ermäßigter Tarif in der Höhe von umgerechnet 35 Cent. Auch diese Regelung wurde fortgeführt, wobei sich die Relation in der jüngeren Vergangenheit noch mehr zu Gunsten der studentischen Ermäßigung verschoben hat (aktuell ein Viertel des Normalbeitrags). Die seit der Gründung erfolgten Erhöhungen des Mitgliedsbeitrags sind kaufkraftneutral.
Als dritter Tagesordnungspunkt war die Wahl eines Vorsitzenden und des Ausschusses anberaumt. Im Laufe der Zeit bildete sich die Gepflogenheit heraus, die anfangs jährlich wechselnden Vorsitzenden nach Möglichkeit aus verschiedenen Fächern zu rekrutieren, um die Offenheit des Vereins nach allen Richtungen der einzelnen sprachbezogenen Fächer zu signalisieren. Im späteren Verlauf der Vereinsgeschichte konnte so auch der Eindruck vermieden werden, dass das Institut für Sprachwissenschaft, an dem die Sprachgesellschaft bis heute logistisch angesiedelt ist und organisatorisch betreut wird, einen Alleinvertretungsanspruch für die Vereinsagenden erhebt. Für die letzten drei Jahrzehnte können insgesamt fünf Institute der philologisch-kulturwissenschaftlichen Fakultät genannt werden, die einmal oder mehrmals Vorsitzende der Sprachgesellschaft gestellt haben, sowie zwei Institute der Wirtschaftsuniversität und das Zentrum für Translationswissenschaft. An der Wahrnehmung weiterer Vorstandsfunktionen waren in diesem Zeitraum Angehörige von weiteren zwei Instituten sowie der Universitätsbibliothek beteiligt. Diese Streuung, zusammen mit der mehr oder weniger konstanten Zahl von 150 Mitgliedern, gewährleistet nach wie vor, dass die Wiener Sprachgesellschaft im Gefüge der sprachbezogenen Fächer an den Wiener Universitäten breit integriert ist.
Der vierte und letzte Tagesordnungspunkt der Gründungsversammlung von 1947 bestand in der Ankündigung eines Vortrags von Wilhelm Havers, dem damaligen Inhaber der Lehrkanzel für indogermanische und allgemeine Sprachwissenschaft an der Universität Wien und ersten Herausgeber der 1949 gegründeten Zeitschrift »Die Sprache«, die sich im Eigentum der Wiener Sprachgesellschaft befindet. Damit ist der Kern der Vereinstätigkeit angesprochen: Die Sprachgesellschaft war und ist im Wesentlichen ein Forum, das aktuelle Themen der Sprachwissenschaft einem lokalen akademischen Publikum nahebringt und damit einen fachlichen Austausch über Institutsgrenzen hinweg im Kleinen anregt, wie er sonst nur im Großen durch die Organisation von Konferenzen und Tagungen ermöglicht wird. Für Studierende bietet sich dadurch die Gelegenheit, ohne besonderen praktischen Aufwand einen Eindruck von der Vielfalt der Forschungen und Lehrmeinungen zu erhalten, die im »Weltmosaik der Linguistik« (eine vom ehemaligen Vorsitzenden F. V. Mareš geprägte Metapher) vorhanden sind und vertreten werden. Die Liste der rund 360 Veranstaltungen allein der letzten drei Jahrzehnte umfasst Vorträge von Referentinnen und Referenten aus vierzig Ländern aller fünf Kontinente.
Die Geschichte der Wiener Sprachgesellschaft, die hier anhand der Tagesordnungspunkte der Gründungsversammlung nur ganz grob umrissen wurde, ist ein nicht unbeträchtliches Stück Geschichte der Sprachwissenschaft in Wien. In seinem 75-jährigen Bestehen ist dieser Verein nicht nur mit hunderten Vortragsabenden, sondern auch durch die Mitorganisation von Tagungen sowie als Subventionsscharnier für zahlreiche Projekte und nicht zuletzt durch die Herausgabe einer weltweit angesehenen internationalen Fachzeitschrift zu einer repräsentativen Institution geworden. Die 2015 erfolgte Stiftung eines jährlichen Förderungspreises für hervorragende Abschlussarbeiten verstärkt diesen Status der Wiener Sprachgesellschaft vor allem im Bewusstsein akademischer Nachwuchskräfte und ist damit ein solider Baustein für ihren gedeihlichen Fortbestand.